Mittwoch, 18. Mai 2011

Im Land der verlassenen Kinder


Die Geschichte Haiti Haitis gleicht der Erdbebenwellen, die das Land immer wieder erschüttern. Ein Tiefschlag folgt dem anderen und die Menschen haben kaum Kraft wieder auf die Beine zu kommen. Es ist ein Land, dessen Urbevölkerung restlos ausgerottet und durch Sklaven ersetzt wurde. Obwohl weit weg von ihrer Heimat, fanden die auf den riesigen Plantagen arbeitenden Sklaven den Mut, sich gegen ihre Herren aufzulehnen. Inspiriert von den Idealen der französischen Revolution begannen die afrikanischen Sklaven 1791 ihren Freiheitskampf. Während der folgenden13 Jahre wurde die Sklaverei abgeschafft, wieder eingeführt und erneut abgeschafft, französische Truppen besetzten die Insel und wurden vertrieben. Die Spannungen zwischen den in Afrika geborenen Schwarzen und den Mulatten führten zum Bürgerkrieg. Erst nach der Besetzung und späteren Räumung des östlichen, spanischen Teiles der Insel, wurde 1804 die erste schwarze Republik proklamiert, die vielen anderen Kolonien zum Beispiel werden sollte.
Der erste Diktator von vielen
Unter dem grausamen Despoten Dessalines, der sich zum Kaiser krönte, wurden die Plantagen enteignet und unter der mulattischen Elite verteilt. Dessalines war klar, dass nur die Plantagenwirtschaft den Reichtum der ehemaligen Kolonie erhalten könnte. Die von der schwarzen Bevölkerung angestrebten Rechte auf eigenen Landbesitz machten einer neuen Sklaverei Platz. Schon 1806 kam es zu einem Staatsstreich und einem erneuten Bürgerkrieg zwischen Mulatten und Schwarzen. Das Land wurde geteilt in eine südliche, von Mulatten regierte Republik und eine nördliche, dem französischen Hofstaat nachgeahmte Monarchie unter Kaiser Henri. 1820 wurden nicht nur der südliche und der nördliche Teile Haitis, sondern auch der französische und der spanische Teil der Insel vereint.

Die Freiheit muss teuer bezahlt werden
Noch bevor die Teile wieder getrennt wurden, erkannte Frankreich die Unabhängigkeit Haitis an unter der Bedingung dass die ehemalige Kolonie eine Abfindung an die Plantagenbesitzer zahlen müsste. Unter militärischem Druck verpflichtete sich Haiti 150 Mio. Franc zu bezahlen, eine Schuldenlast, die den Staat noch bis in die 1950er lähmte. Diese Bürde erklärt unter anderem die extreme Abholzung in Haiti. Ein Teil der Schulden wurde mit Holz bezahlt, die Wälder verschwanden und machten kahlen Berghängen Platz die schnell zu Erosion und gefährlichen Felsrutschen führen.

Entwicklung unmöglich
Ende des 19. Jahrhunderts war Haiti ein völlig unterentwickeltes Land, in dem eine Industrialisierung nicht stattgefunden hat. Verhindert worden war sie vor allem durch die enorme Schuldenlast gegenüber Frankreich die über ein Jahrhundert einen steten Kapitalabfluss bedeutete. Ausländische Investoren wurden durch politische Instabilität, hohe Besteuerung, fehlenden Zugang zu internationalen Märkten, mangelhafte Infrastruktur, ein schlechtes Kreditsystem und die Korruption abgeschreckt.

US-Invasion 1915-1934
Die desolate Lage und die innere Zerrissenheit führten immer wieder zu Aufständen, denen die Amerikaner ab 1915 Einhalt gebieten wollten. Die für die Haitianer traumatische Besatzung endete 1934. Doch die Freiheit währte nicht lange.

Über Generationen nur Diktaturen
1957 wurde der schwarze Diktator Duvalier und 1971 sein Sohn vom Militär an die Macht geputscht, der grausame Massaker an der mulattischen Bevölkerung beging. Bis 1994 gab ein Putschist dem anderen die Klinke in die Hand. Misswirtschaft, Terror und Korruption bestimmten den Alltag der Haitianer.

Internationale Isolation
Von 1994 bis 2000 intervenierten die USA wieder, die Aristide als Präsidenten einsetzen. Auf die umstrittenen Wahlen folgte eine internationale Isolation Haitis. Die Krise endete 2004 mit dem Sturz Aristides. Seither sind internationale UN-Truppen in Haiti stationiert, die die Regierungsbildung überwachen sollen. Die Unruhen fanden dennoch kein Ende wodurch es zu schweren Versorgungskrisen kam. 2006 wurde  Preval in einer umstrittenen zum neuen Präsident ausgerufen. Auch er konnte an der prekären humanitären Lage nicht viel ändern, als Proteste gegen die gestiegenen Preise viele Tote fanden.

Erdbeben 2010
Noch vor dem Ende von Prevals Legislaturperiode suchte im Januar 2010 dann ein schweres Erdbeben den Inselstaat heim, der sicht nicht einmal bis zu den Knien aus der Misere hatte ziehen können. Die kaum bestehenden Institutionen fielen gänzlich zusammen und das haitianische Volk war wieder ohne Führung. Die Choleraepidemie war sicher nicht der erste Tropfen gewesen, der die Hoffnungslosigkeit zum Überlaufen gebracht hatte.
Hauptsächlich in Port-au-Prince sieht man die verheerenden Folgen. Die Menschen berichten mir, wie schön manche Gebäude noch vor etwas mehr als einem Jahr ausgesehen haben und ich kann mir diese maßlose Enttäuschung vorstellen, die diese Leute im Angesicht der Ruinen fühlen mussten. Sie wussten, dass kein Staat sich um sich kümmern würde. Sie wussten, dass sie ganz allein auf sich gestellt waren, bei einer Regierung, die selbst dringend Hilfe bräuchte.

Mutlosigkeit und Gleichgültigkeit
Wenn es keinen Staat gibt, gibt es auch keine Instanz, an die man sich wenden kann. Keine Justiz aber auch oft keine Elektrizität, keine öffentlichen Schulen oder Transport. Stattdessen liegen alle diese Bereiche in den Händen der Privatwirtschaft. Privatschulen machen aus der Lehre ein Business und versuchen so viele Schüler wie möglich zu halten, wenn es sein muss auch unter unmöglichen Lernbedingungen. Beim System des öffentlichen Nahverkehrs sieht es nicht anders aus. Auf den schlechten Straßen nehmen LKWs ihre Fahrgäste auf den Zementsäcken mit, Pickups werden zu bunt bemalten Taptaps umgebaut und Motorräder werden zu Mototaxis. Ich habe sie alle schon ausprobiert. Es gibt so gut wie nirgends fließendes Wasser und meistens auch keinen Strom. „Man gewöhnt sich daran“ sagen die Menschen, die keine andere Wahl haben, als sich mit der Situation abzufinden und noch etwas Positives zu entdecken.  
Oft kommen mir die Haitianer genauso naiv vor, wie ihre farbenfrohe Kunst und die Bibelsprüche nebst bunten Bemalungen auf den Verkehrsmitteln. Aber immer wieder muss ich daran denken, dass die Leute einfach sehr viel weniger Bildung zur Verfügung haben.
Die meisten Menschen im Land der verlassenen Kinder versuchen ihr eigenes Leben zu meistern und verbleiben in politischer Passivität: Von knapp vier Millionen Wahlberechtigten haben nur etwas mehr als eine Million eine gültige Stimme abgegeben. Für den populären Sänger Martelly stimmten gerade einmal 17 Prozent der Wahlberechtigten.

Fortschrittswillen
Und trotz all dieser Bremsklötze von Naturkatastrophen und Staatsschulden, von Regierungslosigkeit und Hungersnöten gibt es eine große Schicht junger Menschen mit einer klaren Vision, wie sie ihr Land aufbauen möchten. Es sind jene, die tags arbeiten und nachts studieren um sich am Wochenende für den Fortschritt einzusetzen. Es erinnert mich an Deutschland zur Nachkriegszeit und die übermenschliche Kraft, die die Kriegsverlierer aufbrachten um ihr Land aufzubauen. Es ist schön zu sehen, dass es aber auch voran geht. Wenn sich ein Dorfkomitee organisiert und klar ihre Ziele formuliert, wenn es 60 Leute zusammentrommelt um Kabel zu verlegen, wenn eine Dynamik zu spüren ist. Es ist schön zu merken, dass die Menschen wieder Hoffnung bekommen.

Die schönen Momente
Der Kontakt zu den Menschen hier macht Spaß. Erstens sind überall Menschen. Selbst wenn man einen entlegenen kleinen Weg entlang läuft trifft man spätestens nach 3 Minuten auf jemand anderen. Die Konversation verläuft dann immer so:

Bonjou. Kommon ou ye?  -> F : Comment vous êtes ? (Guten Tag, wie geht’s)
Bien. Grace à Dieu. E ou meme ? -> F : Et vous même? (Gut, Gott sei Dank. Und selbst ?)
Pa pi mal. Nous la. M'ap kembe. -> F : Pas trop mal. Nous sommes lá. Nous nous défondons. (Nicht so schlecht. Wir sind da. Wir schlagen uns durch.)
Daccord. Mwen alle. -> -> D’accord. Moi je vais partir. (Ok. Tschüss.)

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